Nordkurven-Rückblick Oktober – Dezember 2019: Punktesammeln, Verletzungssorgen und große GEfühle
3. Januar 2020Zum Ende des Monats schlägt „Eisern“ Union Berlin trotz Freitagabendtermins mit fast 5.000 Roten zum ersten Pflichtspiel auf Schalke auf. Vor dem Anpfiff wird der Schalker Jahrhunderttrainer Huub Stevens zum 66. Geburtstag mit einem Ständchen aus 60.000 Kehlen gefeiert; anschließend zieht die Nordkurve einen riesigen Wimpel mit ihrem Fahnenschwenker-Logo hoch, der von vielen kleinen Fahnen und einigen Blitzlichtern und blauen und weißen Rauchtöpfen flankiert wird.
Beide Fanlager liefern tolle Unterstützung, auch das Spiel ist kämpferisch prima. Schalke geht durch einen satten Volleyschuss von Raman mit 1:0 in Führung, dann schlägt wieder einmal der VAR zu und Schiedsrichter Schlager zeigt in der 35. Minute trotz erbitterter Proteste der Schalker Spieler auf den Punkt, nachdem Andrich im Duell gegen Matija Nastasic eine kleine Schwalben-Flugeinlage produziert hat. Ingvartsen verwandelt zum 1:1, die Nordkurve ist not amused. In der zweiten Halbzeit entwickelt sich rassiges Kampfspiel, das lange verdächtig nach Punkteteilung riecht – bis Wagner Ahmed Kutucu für den mit Applaus verabschiedeten Raman ranlässt. Der junge Gelsenkirchener ist kaum 120 Sekunden auf dem Rasen, als er Subotic vernascht und nach vorne marschiert, zu Harit querlegt und dieser zu Serdar weiterleitet – und der mit einem präzisen Schuss ins lange Eck den Berliner Abwehrriegel knackt. Das 2:1 (86.), JAAAAAAAAA!!! Den Spielern ist die Freude anzusehen, die Kurve zieht das „Wir werden siegen, weil wir die Guten sind“-Banner auf und fordert Ihre Helden. Als die Mannschaft zum Feiern Richtung Kurve geht, ertönt „Die Nummer 1 im Pott sind wir“ und „Der FC Schalke wird deutscher Meister und wir holen den Pokal“, die Spieler hüpfen dazu ausgelassen auf dem Rasen herum. David Wagner bekommt einen Extraapplaus und strahlt in die Runde.
Wir sind die Fans, die auch zu Dir steh’n, wenn Du verlierst…
Im Dezember geht es nach Leverkusen. Der Support der zahlreichen mitgereisten Schalker ist engagiert und deutlich lauter als das Heimpublikum, aber das Team verpasst durch einen Fehlgriff von Alexander Nübel und eine offensiv schwache erste Hälfte trotz eines kämpferisch ansprechenden zweiten Durchgangs einen Punktgewinn. Nübel fliegt an einem Eckball vorbei und ermöglicht so Alario das 1:0 für die Gastgeber, die in der ersten Halbzeit klar besser sind. Der vermeintliche Ausgleich von Raman kurz nach der Pause zählt nicht, weil er Millimeter im Abseits steht. Schalke wird zunehmend stärker, doch statt sich für die Sturm- und Drangphase zu belohnen, verfolgt die Schalker Mannschaft ohne ernsthafte Gegenwehr einen sehenswerten Angriff der Werkself. Über Volland, Amiri und Aranguiz landet das Leder im Fünfmeterraum vor den Füßen von Alario, der sich nicht lange bitten lässt und zum 2:0 einschießt (81.). Zwar legen im direkten Gegenzug Harit und Kutucu für Raman auf, der aus kurzer Distanz zum Anschlusstreffer einschiebt (82.), doch es bleibt bei der 1:2-Niederlage. Damit hat Schalke die Chance vergeben, dem Spitzenduo unmittelbar auf den Fersen zu bleiben, zudem ist der ungeliebte Nachbar wieder vorbeigezogen – doch mit Platz 04 steht die Mannschaft immer noch unerwartet gut da. Das und die deutliche kämpferische Steigerung in der zweiten Halbzeit führen dazu, dass der Mannschaft beim Gang in die Kurve das tröstende Bekenntnis „Wir sind die Faaaans, die auch zu Dir steh’n, wenn Du verlierst, Du bist mehr als nur ein Cluuuub, Schalke meine Sucht“ entgegenschallt.
Kung-Fu-Rot, ein weiterer Verletzter und drei hart erkämpfte Punkte
Im folgenden Heimspiel gegen Frankfurt brauchen die Fans wieder gute Nerven: Bereits in der 10. Minute landet Weston McKennie nach einem Kopfballduell unglücklich auf der linken Schulter und muss vom Platz getragen werden. Für ihn kommt Juan Miranda zu seinem Bundesliga-Debüt. Bis zur Pause gibt es zahlreiche Kampf-, aber nur wenige Torszenen. Umso größer ist die Erleichterung, als der Ball über Suat Serdar und Amine Harit bei Benito Raman landet und der Belgier mit seinem 4. Saisontreffer präzise ins lange Eck vollendet (53.).
Der Aufreger des Spiels folgt dann in der 66. Minute: Gacinovic entwischt der Schalker Abwehr und wird fast 30 Meter vor dem Tor von Alexander Nübel mit einem Oliver-Kahn-Gedächtnis-Kung-Fu-Tritt umgenietet. Schiedsrichter Zwayer zückt sofort Rot, selbst die Schalker Fans fragen sich entgeistert, wie man so in diesen Zweikampf gehen kann. Markus Schubert kommt so zu seiner Bundesliga-Premiere. Der dezimierten Schalker Mannschaft gelingt es dennoch, das 1:0 über die Zeit und sieben Minuten Nachspielzeit zu verteidigen; der eingewechselte Guido Burgstaller trifft sogar noch mit einem Distanzknaller den Pfosten (83.). Eine starke Mannschaftsleistung!
Nübel entschuldigt sich bei Gacinovic, der sich als fairer Sportsmann zeigt und kein Öl ins Feuer gießt. Das DFB-Sportgericht verhängt eine Sperre von vier Spielen, die Schalke sofort akzeptiert. McKennie hat sich mehrere Bänder in der Schulter gerissen und wird voraussichtlich bis Februar fehlen.
Wenn Fußball zur Nebensache wird
Das Auswärtsspiel in Wolfsburg steht für die mitgereisten Schalker Fans nicht unter einem guten Stern: Riesenstau bei der Anreise, Chaos auf den Parkplätzen und eine furchtbare Nachricht: Ein Schalker ist vor dem Stadion zusammengebrochen und wenig später verstorben. Aus Respekt stellen beide Fanlager den Support ein, es ist buchstäblich totenstill. Wenig später wird bekannt: Der Verstorbene ist Drüse, langjähriger Allesfahrer und Mitglied der Ultras Gelsenkirchen.
Zunächst sieht alles nach einem normalen Auswärtsspiel in Wolfsburg aus: Die gut 4.000 Schalker singen die VW-Spätschicht an die Wand, bis der Support stoppt, weil es einen „medizinischen Notfall“ gegeben hat. In der Halbzeit verdichten sich die Gerüchte, dass der Schalker es leider nicht geschafft hat, gespenstische Stille senkt sich über den Schalker Block. Auch die Heimkurve schweigt – und zeigt ein Banner mit der Aufschrift „Ruhe in Frieden“.
Jetzt gibt es kaum noch jemanden in der Arena, der keinen Kloß im Hals hat, einige wollen es noch nicht glauben. Der Gedanke, dass einer von uns nie wieder nach Hause kommt, ist beklemmend. Doch der Stadionsprecher bestätigt: Ein „tragischer Zwischenfall“ auf dem Weg zum Stadion „ohne jegliches Anzeichen für Fremdeinwirkung“ habe zum Tod des 41jährigen Fans geführt; er spricht Familie und Freunden des Verstorbenen und allen Schalker Fans aufrichtiges Beileid aus. Das Entsetzen und die Fassungslosigkeit im königsblauen Block kann das nicht mildern, denn zunehmend spricht sich herum, dass der Tote „Drüse“, der freundliche Hüne aus den Reihen der UGE und quasi überall am Start, wo Schalke auftrat, ist. Kaum ein Auswärtsfahrer, der ihn nicht zumindest vom Sehen kannte. Viele haben Tränen in den Augen und hängen ihren ganz persönlichen Erinnerungen an Drüse nach. Kälte und buchstäbliche Totenstille haben alle fest im Griff.
Das Spiel ist nur noch Nebensache und endet durch Tore von Kabak und Mbabu mit einem leistungsgerechten 1:1. Nach Feiern ist niemandem zumute, Wolfsburg verzichtet „aus Rücksicht auf die Gästefans“ auf die üblichen Weihnachtsfeierlichkeiten und; die Schalker Mannschaft kommt ebenfalls nur kurz in die Kurve; Fans und Mannschaft applaudieren sich schweigend gegenseitig.
Gänsehaut und ein Remis zum Abschluss
Der Tod von Drüse ist auch das prägende Thema beim letzten Heimspiel gegen den SC Freiburg. An der Tausend-Freunde-Mauer hat die Rückseite des Ticket-Häuschen ein großes neues Graffito bekommen: Das UGE-Männchen und RIP DRÜSE ist dort zu sehen; auf der Seite steht „Wir waren mehr als Freunde“. Auch im Inneren der Arena ist Drüse allgegenwärtig: Die Nordkurve, „seine“ Kurve, ist ungewöhnlich dunkel und still, sowohl auf der Gegengeraden als auch am Vorsängerpodest als auch über der Fahne des Supporters Club hängen Banner mit der Aufschrift RIP DRÜSE. Die Nordkurve verzichtet auf Fahnen und verwandelt sich zum Einlaufen der Mannschaften in ein schwarzes Gedenkmal für Drüse: Zwei riesige schwarze Banner „Wir waren mehr als Freunde, wir waren wie Brüder – viele Jahre sangen wir die gleichen Lieder“ und „Ruhe in Frieden Drüse – Ultras für immer“ rahmen tausende schwarze Papptafeln ein, nur in der Mitte ragen eine Großfahne mit Drüses Porträt und ein einzelner Bengalo heraus. Eine Kurve trägt Trauer.
Auf dem Rasen entwickelt sich eine abwechslungsreiche Partie, bei der Schalke durch einen schönen Schuss von Serdar zur Pause mit 1:0 in Führung liegt. Doch einen sehr fragwürdigen (Kabak gegen Höler) und einen berechtigten (Miranda gegen Kwon) Elfer später führen die Gäste mit 2:1, bis Joker Kutucu nach Vorarbeit von Harit zum 2:2-Endstand ausgleichen kann. Danach bleibt kaum ein Schalker Auge trocken: Als die Mannschaft zur Kurve kommt, bekommt sie von den Vorsängern Kanne und Dennis die Fahne mit Drüses Portrait ausgehändigt und wird minutenlang mit „Ein Leben lang, blau und weiß ein Leben lang“ abgefeiert. Auch David Wagner zollt den Fans Beifall. Hinter dem „Wir werden siegen, weil wir die Guten sind“-Banner feiern Fans und Spieler gemeinsam eine Hinrunde, die trotz einiger ärgerlicher Punktverluste und enormem Verletzungspech in der Abwehr alle Erwartungen übertroffen hat. Mit 30 Punkten liegt Schalke nicht nur prima auf Kurs „internationales Geschäft“, sondern hat bereits fast so viele Punkte gesammelt wie in der vergangenen Saison insgesamt (33). Und, noch wichtiger: Die Mannschaft hat das in der Vorsaison verspielte Vertrauen, das in dem Entzug der Nordkurvenbinde gipfelte, durch beherzte Auftritte und Schulterschlüsse mit der Fanszene wieder zurückgewonnen. Spieler und Anhänger kämpfen wieder Seite an Seite, 2020 und die Rückrunde können kommen!