Schalke – BVB 2:2: Schalke als moralischer Sieger eines heißen Derbys feiert weiter
12. März 2023Der FC Schalke 04 beendet die Rückrunden-Siegesserie des Revierrivalen und trotzt dem BVB trotz zweimaligen Rückstands beim 2:2 (0:1) einen verdienten Punkt ab. Zahlreiche Banner und Giftpfeile, Pyrotechnik auf beiden Seiten, ein riesiges Polizeiaufgebot und zahlreiche Zweikämpfe auf dem Rasen sorgen für ein hitziges 100. Revierderby. Susanne Hein-Reipen berichtet…
Die Woche vor dem 100. Bundesligaderby zwischen Blau-Weiß und Schwarzgelb war geprägt von erbitterten Diskussionen über die Polizei Gelsenkirchen, die präventiv ein Alkoholverkaufsverbot verhängte und sich bitterlich über Schalkes Kritik daran beschwerte, selber aber mit massiven Hausdurchsuchungen unter anderem im Vereinsheim der Ultras Gelsenkirchen im Nachgang zum Überfall auf die Schalker Busse vor dem Spiel bei Union Berlin fleißig Öl ins Feuer des ohnehin sehr angespannten Verhältnisses goss. Dementsprechend riesig ist das Polizeiaufgebot auf dem Berger Feld.
„Ich hab‘ Schalke, das reicht!“
Die überwältigende Mehrheit der Fußballfans, die sich weder mit noch ohne Bier schlagen, sondern nur ein möglichst spannendes Spiel erleben wollen, weicht deshalb zum Vorglühen in die Gelsenkirchener Gastronomie aus oder importiert den Gerstensaft. Zum Geheimtipp „Letzte Tankstelle vor der Arena“ avanciert die Würstchenbude am Ötte-Tibulski-Weg. Schalker und einige Gäste schlabbern dort friedlich ihr Pils. Um kurz nach halb fünf marschieren die Ultras Gelsenkirchen, eisig schweigend eskortiert von mehreren Staffeln behelmter und bewaffneter Polizisten, Richtung Nordkurve.
Im Fanspiel trennen sich die „Königsblauen Germanen Bredenborn“ und die „Schalker Freunde Verne“ mit einem 4:4 und Niklas aus Verne kommentiert das Alkoholverbot trocken mit „Ich hab Schalke, das reicht!“ Gut gebrüllt, Löwe! Im Oberrang vor Block 44 kritisiert ein Banner mit der Aufschrift „Kommt Ostverein oder ein Borussenschwein, kackt sich Pol-GE die Hosen ein“ das bereits im Zweitligaduell gegen Dynamo Dresden heftig umstrittene Schankverbot mit deftigeren Worten.
H*rensöhne, Grabstätten und andere Liebenswürdigkeiten
Eher hart als herzlich geht es verbal auch zwischen den beiden Fanblöcken zu; das Einlaufen der Gästekeeper löst die erste lautstarke Welle an BVB H*rensöhnen, „Und ist der Feind gestorben…“ und „Wenn wir wollen, schlagen wir Euch tot“ aus, beantwortet mit „Absteiger!“ und „Zweite Liga, Schalke ist dabei“. So weit, so normal, allerdings ein etwas undankbarer Job für die Schalker E-Sportler und U 17-Coach Onur Cinel, die am Mikrophon bei Jörg Seveneick über ihre Erfolge berichten wollen. Die Schalker B-Junioren haben ungeschlagen den westdeutschen Meistertitel gewonnen!
Gehüpft wird zwischendurch natürlich auch kräftig, wer will schon ein Borusse sein…? Die Heimbilanz gegen den Rivalen ist positiv, hat allerdings in jüngerer Vergangenheit etwas gelitten. Auf die Trendwende hoffen neben allen Schalkern in der mit 61.571 Zuschauern restlos ausverkauften Arena auch zahlreiche Ex-Schalker Größen wie Emile Mpenza, Steffen Freund, Thomas Linke, Klaas-Jan Huntelaar und Johan de Kock.
Tabula rasa und Pyrotechnik satt
In der Nordkurve, in Block K und im Gästeblock wird derweil kräftig unter zusammengelegten Fahnen getagt, zum Vorschein kommen etliche Sturmhauben und einheitliche Outfits – wer sich nicht mit dem Hammer kämmt, weiß, was gleich kommt. Pyrotechnik im eigenen Stadion ist ja eigentlich unüblich, dient aber in diesem Fall als Machtdemonstration in Richtung der Polizei, das auch mit noch so viel Repressalien nicht verhindern zu können. Passend dazu erscheint in Anspielung auf das unglückliche Reul-Interview nach der Razzia ein Spruchband „Heute tabula rasa“, das Reul mit einem dicken blauen Auge zeigt. In der allgemeinen Aufregung geht die Verlesung der Aufstellung der Gäste fast unbemerkt vonstatten, dann folgt das Steigerlied.
Die Zeit bis zum Vereinslied wird wieder kräftig hüpfend überbrückt, dann wird „Blau und Weiß, wie lieb ich Dich“ rausgeschmettert. Ein gigantisches blaues Banner „Unsere Kurve ist Euer Verderben“ quer über den Unterteil der gesamten Nordkurve richtet sich an Polizei und Schwatzgelbe gleichermaßen. Nach einem kräftigen Wechselgesang Schalke! – Nullvier! gibt es die Schalker Startelfaufstellung; Fährmann, Brunner, Yoshida, Jenz, Matriciani, Kral, Krauß, Aydin, Zalazar, Bülter und Frey sollen es richten.
Zum Einlaufen der Mannschaften flammen dann auf beiden Seiten Bengalos und Rauchtöpfe auf, blau und weiß hüben, rotgelb drüben. Hier ist Feuer unterm Dach! Der Qualm bleibt noch eine ganze Weile über dem Spielfeld hängen.
Henning Matriciani Fußballgott
Nach dem Anpfiff durch Schiedsrichter Marco Fritz gibt die Nordkurve die Richtung vor: Steht auf, wenn Ihr Schalker seid! Und beide Mannschaften gehen von der ersten Sekunde an engagiert in die Zweikämpfe, wie es sich für ein Derby gehört. Den ersten Szenenapplaus holt sich Matriciani ab, als er Malen in einem rassigen Sprintduell abkocht (9.). Stark!
In dieser Anfangsphase haben die Gäste offensiv mehr Spielanteile, aber die Schalker Defensive steht gut. Auf den Rängen dominiert natürlich „Vorwärts FC Schalke, schieß ein Tor für uns“ und „Eine Stadt erstrahlt in Blau“, der Gästeblock wedelt engagiert mit den schwarzgelben Fahnen, ist aber akustisch kaum zu hören. Auf dem Rasen marschiert derweil Zalazar munter durchs Mittelfeld, wird jedoch von Hummels, ebenso wie Fährmann Derby-Veteran seit 2008, abgegrätscht. Ralle ist ebenfalls sehr aufmerksam und klärt gegen Haller und Guerreiro (18.). Ein Freistoß des Portugiesen bleibt in der Schalker Mauer hängen (23.).
„Ihr schafft euch einen Feind, dem Ihr nicht gewachsen seid!“
In der 24. Minute dann eine Riesenchance für Schalke: Nach Zuspiel von Schlotterbeck liefert Hummels eine unfreiwillige Vorlage für Zalazar, der frei auf Meyer zuläuft und den Ball knapp über das Lattenkreuz nagelt (24.). Schade! Auf der Gegenseite ist dann ebenfalls kurz Herzkasper angesagt, denn Jenz trifft einen Querpass von Malen nicht richtig und hätte das Leder so fast über den verdutzten Fährmann hinweg ins eigene Netz befördert, doch der Ball geht knapp über die Latte (27.).
Die königsblaue Fanszene arbeitet sich derweil weiter an Gegner und Polizei ab. „Schalker sein heisst Probleme kriegen? – Schalker sein heisst Probleme machen!“ titeln Nordkurve und K-Block, gefolgt von weiteren verbal geschändeten Grabstätten und lautstarken „Scheixx BVB“-Rufen bei einer Ecke der Gäste. Wolf beschwert sich, dass Gegenstände auf den Rasen fliegen und erntet ein weiteres Pfeifkonzert.
Die Spruchbandparade geht weiter mit „Wenn ihr die weißen T-Shirts seht, wisst Ihr, dass Ihr untergeht“ und „Ihr schafft euch einen Feind, dem Ihr nicht gewachsen seid!“ Dazu werden einige gelbe und rote Fanutensilien des BVB und der befreundeten Kölner präsentiert.
Rückstand durch Schlotterbeck
Fährmann rettet stark im 1:1 gegen Malen (30.), Hummels klärt gegen Bülter (32.), Brunner bremst Bellingham (34.), Hummels stoppt Frey (36.), wieder Fährmann mit einer Fußabwehr gegen Wolf (37.) – und dann ist es leider passiert: Eine kurze Unaufmerksamkeit der S04-Abwehr ermöglicht Guerreiro links vor den Strafraum einen Querpass zu Schlotterbeck, der zu viel Zeit und Platz hat und den Ball platziert zum 0:1 in der rechten unteren Ecke versenkt (38.). Sch…ade, aber zu diesem Zeitpunkt nicht unverdient.
Die Nordkurve stimmt sofort wieder „Steht auf“ an, aus dem Gästeblock ist „Wer wird deutscher Meister? BVB Borussia!“ zu hören. Das werden wir ja sehen…
Die Führung gibt den Schwarzgelben weiter Auftrieb, Fährmann muss gegen Bellingham abtauchen (41.), Yoshida klärt gegen Malen (43.), dann geht es mit einer Minute Nachspielzeit in die Kabinen. Zeit zum Verschnaufen von aufregenden 45 Minuten, da kommen die Fanbox und die Infos aus dem Team Fanbelange gerade Recht. Kirsche hat heute unter anderem eine „90 Minuten“ Veranstaltung zum 50. Geburtstag des Parkstadions (29.03.), ein „Mitgeredet“ mit Christina Rühl-Hamers und Bernd Schröder (17.03.), eine Blau-Weiße Sprechstunde und Infos für Fans mit Behinderungen im Gepäck.
Bülter zum umjubelten Ausgleich
Beide Teams kommen personell unverändert wieder auf den Rasen zurück; unverändert bleiben auch die Seitenhiebe der Nordkurve gegen die Staatsmacht: Zwei weitere Banner „Pol NRW: Tabula rasa und alkoholfreies Bier/Die größte Schande bleibt immer noch IHR“ zielen erneut gegen Innenminister Herbert Reul und die Polizei.
Die Schalker Spieler werden mit lautstarkem Applaus und den „Asozialen Schalkern“ mit einigen Bengalos begrüßt, in der Nordkurve sind dabei auch Fahnen der Fanfreunde aus Nürnberg, von der Curva Sud der Salernitana und Twente zu sehen. Und sie haben allen Grund zum Jubeln: Kral klaut Bellingham den Ball, über Krauß und Zalazar kommt das Leder zu Frey, der auf der rechten Seite Wolf und Schlotterbeck abschüttelt und querlegt, wo Bülter eiskalt aus nächster Nähe zum 1:1 vollendet (50.). JAAAAAAAAAAAA! Die Arena eskaliert, die Pyros glühen, das Bier fliegt tief, denn dieser Treffer bedeutet das Ende einer fiesen Durststrecke mit fünf Revierderbys ohne königsblaues Tor.
Meyer zeigt sich kurz darauf wenig sportlich, als er den angeschlagen in seinem Strafraum liegenden Yoshida keines Blickes würdigt, doch der Japaner beißt auf die Zähne und kann weitermachen. Brunner und Bynoe-Gittens beharken sich verbittert und der Schalker sieht die erste gelbe Karte des Spiels. Die Kurve feiert derweil lautstark mit „Immer wieder S04“ und „Für deine Farben“.
Erneuter Rückstand, erneuter Ausgleich
Doch ausgerechnet in diese Phase, als Schalke Oberwasser bekommt, hinein platzt die erneute Führung für die Spieler aus der verbotenen Stadt: Can hat im Mittelfeld reichlich Platz und legt für Guerreiro vor, der sauber rechts oben in den Winkel zum 1:2 abschließt (60.).
Schalke steckt noch nicht auf, doch Meyer schnappt sich einen Freistoß von Zalazar (63.), dann bringen beide Trainer mit Dahoud für Bynoe-Gittens und Karaman für Zalazar erstmals frisches Personal (68.). Zwei kleinere Vorstöße von Bülter später setzt der gewohnt engagiert in der Coachingzone herumbrüllende Thomas Reis mit Terodde für Frey, Balanta für Krauß und Mohr für Aydin auf weitere ausgeruhte Kräfte (74.).
Das Spiel ist jetzt ausgeglichen und spannend, Matriciani und Fährmann halten hinten stand, angefeuert mit „Wir kommen aus Gelsenkirchen“ – und dann ist es soweit: Flanke Bülter, Joker Karaman entwischt seinem Bewacher Ryerson und köpft das 2:2 (79.). Der Jubel aller Blauen in der Arena kennt keine Grenzen mehr!
Auch Lüdenscheid-Coach Terzic versucht es nun mit einem Doppelwechsel – Modeste und Reyna für Haller und Malen -, aber das königsblaue Bollwerk hält und hat durch Mohr (85.) und Bülter (87.) sogar noch zwei gute Vorstöße. Auf der Gegenseite werden Schlotterbeck und Dahoud geblockt und Matriciani krönt sich endgültig zum Kampfschwein des Tages (90.). Can sieht noch Gelb für ein Foul an Karaman, es gibt drei Minuten obendrauf, dann ist Schluss.
Ein weiterer Punkt gegen den Abstieg und ein dickes Plus für Moral und Zusammenhalt
Das 100. Revierderby endet somit mit einem leistungsgerechten 2:2, Spieler und Fans in schwarzgelb sind frustriert, die Schalker feiern. Beide Mannschaften bleiben in der Rückrunde ungeschlagen, Schalke ist mit nunmehr 20 Punkten auf Platz 17 unverändert Teil der Fünfergruppe, die höchstwahrscheinlich Abstieg, Relegation und Klassenerhalt ausspielt. Der Trend von jetzt sieben Spielen und 11 Punkten ohne Niederlage ist dabei nach der besch…eidenen Hinrunde mit schwachen 9 Punkten aus 17 Partien klar auf Schalker Seite. Ein zweimaliges Comeback gegen den nominell deutlich besser besetzten Rivalen und Möchtegernmeister ist zudem klasse fürs Selbstbewusstsein.
Dementsprechend begeistert werden die Spieler von der Nordkurve zur Welle erwartet, ein höhnisches „Wer wird deutscher Meister? BVB Borussia – NICHT!“ gibt es obendrauf, bevor glücklich gemeinsam der Mythos vom Schalker Markt zelebriert wird. Wir steigen nicht ab, wir bleiben – und das Gemeinsam!